Sollten wir weniger Eiweiß essen? Oder mehr? Die Frage ist heftig, oft ideologisch geprägt, umstritten, kann aber einfach und sachlich geklärt werden.

Proteine

Grundsätzlich enthält unsere Nahrung drei verschiedene Gruppen von Nährstoffen: Proteine, Fette und Kohlenhydrate.

Umgangssprachlich werden Proteine oft noch als Eiweiß bezeichnet. Dieser Name ist historisch entstanden, aus der Vorstellung, dass Protein tierischer Herkunft, so auch das „Weiße vom Ei“, besonders hochwertig sei. Sämtliche Proteine bestehen – in Pflanzen ebenso wie in Tieren – aus einer unterschiedlich langen Reihe verschiedener, miteinander verbundener Aminosäuren. Wobei die Aminosäureprofile tierischer Proteine denen des Menschen ähnlicher sind als Pflanzenproteine.

Biologische Wertigkeit

Als Maß dieser Ähnlichkeit dient die biologische Wertigkeit, „geeicht“ auf das Protein aus dem Hühnerei, dem die biologische Wertigkeit 100 zuerkannt wurde. Aus einem Protein dieser Wertigkeit kann im Organismus des Menschen die gleiche Menge (100 Prozent) an Körperprotein aufgebaut werden: beispielsweise aus 8 g Hühnereiweiß (ungefähr so viel ist in einem Hühnerei) 8 g Körperprotein. Oder, zum Vergleich: Aus 8 g eines Proteins mit der biologischen Wertigkeit 80 (zum Beispiel aus Roggenmehl stammend) würden, vollständige Resorption vorausgesetzt, gut 6 g Körperprotein entstehen können. Hundertprozentige Umsetzung ist da nicht möglich, weil der Gehalt an essenziellen Aminosäuren (im Roggen an Lysin) relativ niedrig ist. Selbstverständlich könnte unser Proteinbedarf auch mit Roggenmehl alleine gedeckt werden, wenn auch mit ziemlich hohen Mengen (ungefähr 800 g pro Tag). Wobei dann nicht nur die gleichzeitige Kohlenhydratzufuhr, sondern auch die überschießende Proteinaufnahme – über den Lysin-Bedarf hinaus (das wird weiter unten erklärt) problematisch wäre. Trotzdem muss die Aminosäureversorgung nicht pedantisch gemessen werden. Unser Organismus ist einigermaßen tolerant.

Eiweiß hat Priorität

Dabei hat aber die Versorgung mit essenziellen Aminosäuren, auf die unser Organismus unbedingt angewiesen ist, weil er sie selber nicht bilden kann, hohe Priorität.

Essenziell (unentbehrlich) sind die Aminosäuren: Histidin, Isoleucin, Leucin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Threonin, Tryptophan, Valin. Wenn diese Aminosäuren in ausreichendem Maß aufgenommen werden, kann unser Organismus die

Semi-essenziellen Aminosäuren: Arginin, Cystein, Glutamin, Glycin, Prolin, Tyrosin, unter günstigen Bedingungen und – etwas einfacher – die

nicht essenziellen Aminosäuren: Alanin, Asparaginsäure, Asparagin, Glutaminsäure, Serin selber bilden.

All diese Aminosäuren werden als Bausteine für die Struktur- und die Funktionsproteine in unserem Organismus stetig gebraucht. 

Strukturbildend sind Proteine in sämtlichen Körperzellen und überall im Bindegewebe.

Funktionswichtig sind Proteine

- für den Transport lebenswichtiger Substrate im Blut und im Zellplasma 
- für das Immunsystem (Immunglobuline)
- für die Zellregulation (Signalstoffe und Rezeptoren)
- für die Muskelkraft (Myoglobine) als Katalysatoren im Körperbetrieb 
  (bisher bekannt sind gut 2000 verschiedene Enzyme)
- für die Wundheilung, die Blutgerinnung und noch einige weitere Faktoren.

Bei Funktionsstörungen in diesen Bereichen wird aber nur selten an einen Mangel an essenziellen Aminosäuren gedacht.

Sind wir ausreichend versorgt?

Wir sind normalerweise dank vielfältiger vollwertiger pflanzlicher Nahrung ganz gut mit Proteinen versorgt. Bedeutende Ernährungsreformer: Are Waerland, Ralph Bircher, John Robbins (Ernährung für ein neues Jahrtausend) und andere hielten daher eine zusätzliche Aufnahme von Proteinen für unnötig oder gar schädlich.

Dennoch erachtete Are Waerland kleine Quanten an schwedischer Langmilch für günstig – und im ernährungstherapeutischen Konzept von Johanna Budwig ist die Quark-Leinöl-Diät von zentraler Bedeutung. Hingegen wendet sich J. Robbins, der selbst keine Therapieexpertise hat, sogar gegen die Empfehlung von Frances Moore Lappe (Die Öko-Diät: Wie man mit wenig Fleisch gut isst und die Natur schont) zur Kombination verschiedener pflanzlicher Lebensmittel: „Viele von Lappes Lesern bekamen den Eindruck als müsste man, wenn man den Verzicht auf tierisches Eiweiß in Erwägung zieht, über einen Doktortitel in Chemie verfügen und die eigene Küche mit allen möglichen Tabellen bestücken. Nicht wenige hielten es aufgrund dieses Buches für notwendig, vor dem Anrichten einer Gemüsemahlzeit erst einmal die Aminosäurezusammensetzung der verwendeten Lebensmittel genau zu studieren.“

Pflanzenprotein kombinieren

Selbstverständlich muss man das nicht, der Autor selber hat das schon relativiert. Hingegen scheint Robbins’ beißende, populistische Rhetorik da überzogen und ziemlich daneben. Denn es ist sinnvoll, auf die intelligente Kombination unterschiedlicher Nahrungspflanzen zu achten: um die biologische Wertigkeit der enthaltenen Proteine zu erhöhen – und so mit weniger Gesamtproteinaufnahme
gut auszukommen
. In der Regel enthält vegetabile Nahrung weniger Proteine als Mischkost, was kein Nachteil sein muss, wie weiter in diesem Text erklärt wird. Waerland hatte bereits den Verzehr von Fleisch, Fisch und Eiern abgelehnt, den er als Ursache von Fäulnis im Dickdarm und Übersäuerungen und damit als Ursache vieler Zivilisationskrankheiten ansah.

Zudem hatte Prof. Dr. Lothar Wendt in den 1940er Jahren seine Lehre von den Eiweißspeicherkrankheiten entwickelt. Er hielt Verstopfungen der Kapillarwände durch Proteine für die eigentliche Ursache von Bluthochdruck, Herzerkrankungen und Typ2-Diabetes – und riet deswegen zum Eiweißfasten. In der Folgezeit haben diese Hypothesen aber wenig Bestätigung gefunden. Einigen Untersuchungen zufolge tragen jedoch Proteine aus Kuhmilch bei manchen Menschen anscheinend zur Entstehung von Diabetes mellitus bei. Sicherlich ist die verbreitete hohe Zufuhr von Kohlenhydraten aber auch ein Risikofaktor für Diabeteserkrankungen.

Was sollte man also bevorzugt essen?

Ein relativ hoher Anteil guter Pflanzenöle mit hohem Gehalt an Omega-3-Fettsäuren (vor allem Leinöl), dazu ein paar Gramm mittelkettige gesättigte Fettsäuren (ein bis zwei Teelöffel Kokosöl), Rohkostsalate und reichlich Gemüse könnten eine ganz gute Basis sein.

Obgleich Proteine zu den Nährstoffen gezählt werden, sollten sie nicht als „Brennstoffe“ – infolge übermäßiger Zufuhr – missbraucht werden: das wäre Vergeudung essenzieller Struktur- und Funktionsstoffe und sehr belastend für den Zellstoffwechsel. Überschüssig aufgenommene Proteine bzw. Aminosäuren werden im Inneren der Körperzellen oxidiert und nur sehr langsam ausgeschieden. Höhere Konzentrationen davon können zum Entstehen von Arteriosklerose, Diabetes mellitus und neurodegenerativen Erkrankungen beitragen. Derartige Überschüsse im Zellinneren bilden sich auch beim Verzehr von Proteinen mit geringer biologischer Wertigkeit, weil denen essenzielle Aminosäuren zur körpereigenen Proteinbildung fehlen.

Wäre es demnach besser, relativ wenig Proteine aufzunehmen?

Früher empfohlene Zufuhrmengen wurden schon reduziert. In den 1920er Jahren hatte eine Kommission des Völkerbundes 1 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht und Tag empfohlen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt nun für Erwachsene mittleren Alters 0,8 g pro kg Körpergewicht täglich. Selbst 0,4 bis 0,6 g, je nach Belastung und noch etwas weniger könnten ausreichend sein, sagen hingegen Befürworter veganer Kost.

Welche Menge ist am besten für die Gesundheit?

Weitaus wichtiger als der Gesamtproteinverzehr ist die ausreichende Versorgung mit essenziellen Aminosäuren. Wenn diese Aminosäuren fehlen, können lebenswichtige Proteine im Organismus, Transportproteine, Regulationsproteine, Immunglobuline, Myoglobine, Enzyme und andere nicht optimal gebildet werden. Für optimale Funktion erforderlich sind Mengen im Grammbereich: alltäglich ca. 1,8 g Phenylalanin, 1,8 g Leucin, 1,7 g Methionin, 1,5 g Lysin, 1,4 g Histidin, 1,3 g Valin usw.

Der Tagesbedarf an allen essenziellen Aminosäuren zusammen beträgt ungefähr 15 g, auf das normale Körpergewicht von Erwachsenen bezogen ca. 0,2 bis 0,4 g pro kg, je nach Körperlänge. Die Proteine in unseren natürlichen Nahrungsmitteln bestehen allerdings aus dem gesamten Spektrum an Aminosäuren: außer denen, die für uns essenziell sind, auch aus den semi-essenziellen und den nicht essenziellen Aminosäuren. Daher ist der Mindestproteinbedarf sicherlich etwas höher anzusetzen: 0,5 bis 0,6 g pro Kilogramm Körpergewicht und Tag dürften wohl sinnvoll sein. Und von Proteinen mit relativ niedriger biologischer Wertigkeit, d. h. mit relativ niedrigem Gehalt an essenziellen Aminosäuren, ist mehr erforderlich. Selbstverständlich müssen Sie deswegen Ihre Nahrung nicht chemisch analysieren und nicht kalkulieren. Wichtige Zusammenhänge sollten Sie aber doch kennen.

Hunger und Blutzuckerspiegel

Der Hunger und damit der Impuls zur Nahrungsaufnahme wird nur wenig vom Proteinbedarf, sondern vielmehr von sinkenden Blutzuckerspiegeln bestimmt. Wird der Hunger daraufhin mit stärkereicher oder gar mit gezuckerter Kost gestillt, steigt der Blutzuckerspiegel zunächst steil an und stimuliert dabei schnelle, heftige Insulinausschüttung. Und fällt deshalb bald wieder ab. Damit beginnt – bei übermäßig kohlenhydratreicher oder gar gezuckerter Kost – ein achterbahnartiges Auf und Ab des Blutzuckerspiegels mit Heißhungerattacken, steigendem Körpergewicht und metabolischem Syndrom (siehe S. 10) – und zunehmender Anfälligkeit für Zivilisationskrankheiten aller Art.

„Beifang“ Proteine

Proteine werden dabei, völlig ungeachtet ihrer Wertigkeit und des wirklichen Bedarfs, als „Beifang“ aufgenommen. So ist der Proteinbedarf, auch aus Mischkost meistens üppig gedeckt und wenig beachtet – aber nicht unbedingt der Bedarf an essenziellen Aminosäuren. Zur Bildung der Struktur- und Funktionsproteine sind sämtliche essenziellen Aminosäuren erforderlich. Wenn auch nur eine Aminosäureart unzureichend vorhanden ist, können lebenswichtige Proteine nicht ausreichend gebildet werden. Bei relativem Mangel sind aber Struktur- und Funktionsdefizite nicht gleich und nicht einfach zu erkennen. Mitunter kann der Organismus zudem einen Mangel an essenziellen, limitierenden Aminosäuren mit entsprechend höherer Proteinaufnahme kompensieren. Andere Aminosäuren aus erhöhter Zufuhr, die eigentlich nicht gebraucht werden, werden dann in mehr oder weniger großem Ausmaß in den Körperzellen oxidiert, mit belastender, störender Wirkung auf die Zellfunktionen. Bei unklaren, sonst schwer erklärbaren Funktionsstörungen und unspezifischen Symptomen, wie Tagesmüdigkeit, allgemeiner Schwäche, Schwindel, Konzentrations- und Gedächtnisstörung sollte daher auch an einen Mangel an essenziellen Aminosäuren aus Proteinen hoher biologischer Wertigkeit, bzw. an eventuelle bisherige Belastung mit Proteinen von niedriger biologischer Wertigkeit gedacht werden. Die Analyse des Aminosäurenprofils im Blut/Serum ist möglich, aber keine übliche Kassenleistung. Zur spezifischen Wirkung einzelner Aminosäuren für die Gesundheit soll in der nächsten Ausgabe von reformleben berichtet werden.

Als „Eiweißrichtlinie“ für die Ernährung gilt ganz einfach:

1. Auf gut ausreichende Versorgung mit den neun essenziellen Aminosäuren
2. aus Proteinen mit möglichst hoher biologischer Wertigkeit (aus kenntnisreich zusammengestellten Nahrungspflanzen) und
3. insgesamt sparsame, nicht üppige Proteinzufuhr achten.

Ohnehin ist das ein Grundprinzip weiser Ernährung:

Bewusst und besser ausreichend wenig Nahrung von hoher biologischer Qualität als massenhaft Junk Food.

Mit vegetabiler Nahrung kann die Proteinversorgung in gesunder Weise, ethisch und ökologisch verantwortungsbewusst erreicht werden. Dazu sollten Ihnen aber die biologischen Wertigkeiten der enthaltenen Proteine in Grundzügen bekannt sein.

Biologische Wertigkeit des Proteins in:

Sojabohnen: 85
Reis: 83
Quinoa: 82
Quark: 80
Roggenmehl: 80
Kartoffeln: 76
Kasein (aus Kuhmilch): 77
Lachs: 75
Hafer: 60
Linsen: 60
Erbsen: 59
Weizen (Vollkorn): 56
Hasselnüsse: 50
Karotten: 36

(Nur zum Vergleich: Protein aus Schweinefleisch: 85, aus Rindfleisch: 84).

Einige Pflanzenarten enthalten aber insgesamt relativ wenig Proteine.

Hier die Zahlen zum Gesamtproteingehalt:

Äpfel: ca. 0,3 %
Kartoffeln: ca. 2 %
Spinat: 2,5 %
Walnusskerne: 15 %
Mandeln: 20 %
Bohnen (Kerne): 21 %
Linsen: 23 %
Sojabohnen: 33 %.

Damit ist die gesamte Proteinzufuhr aus vegetabiler Nahrung nur selten defizitär. Je nach bevorzugten Pflanzenarten und Zusammenstellungen kann aber die Versorgung mit essenziellen Aminosäuren unzureichend sein. Deshalb kann vor allem bei Stoffwechselerkrankungen, Immunstörungen, Nervenerkrankungen, Bindegewebs-, Muskel- und Gelenkserkrankungen die Labor-Analyse des Aminosäuregehaltes im Blut in Betracht gezogen werden. Daraufhin sind gezielte Nahrungsergänzungen eventuell möglich. Grundlegend wichtig ist stets die Aufnahme von möglichst hochwertigen Proteinen in ausreichend geringen Mengen (siehe dazu die konkreten Erklärungen im Text) aus vielfältiger vegetabiler Nahrung.